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Menschen lesen: Ein FBI-Agent erklärt, wie man Körpersprache entschlüsselt

Hatten Sie jemals das Pech, mit einem geschulten Verhörexperten ins Gespräch zu kommen? Ich machte diesen Fehler in meiner frühsten Berufslaufbahn. Grün und ahnungslos, wie ich damals war - nur wenige Monate aus den behüteten Klassenräumen eines katholischen Gymnasiums -, wollte ich meine damalige Vorgesetzte dringend um eine Änderung im Betriebsablauf bitten. Dabei ging es um einen in meinen Augen gänzlich logischen Vorschlag, der nicht nur meiner Gesundheit extrem zuträglich gewesen wäre, sondern auch dem Wohlbefinden der teils mehrere hunderttausend Euro teuren Zuchthengste diente, für die ich verantwortlich war. Im Laufe eines sehr kurzen Gesprächs verfolgte ich fasziniert, doch ehrlicherweise gänzlich hilflos, wie sie mich freundlich auflaufen ließ, mir die Argumente im Mund umdrehte und mich in kürzester Zeit mit einem erbärmlichen Rest meines eingänglichen Selbstvertrauens wieder vor die Tür setzte. Diese verlorene Diskussion kostete mich in den folgenden Monaten zwei Pullis, eine Winterjacke und brachte mir eine Narbe an der Hand sowie eine am Bauch, wo mich ein alles andere als freundlich gesinnter Zuchthengst wiederholt mit den Zähnen (und einmal mit den Hufen) erwischte. Doch ich zähle sie bis heute zu den lehrreichsten Gesprächen meines Lebens.

 

Entsprechend können Sie sicherlich verstehen, warum mich der Titel "Menschen lesen" von Joe Navarro (mvgverlag, 2018) auf Anhieb faszinierte. Mit 25 Jahren praktischer Erfahrung beim FBI, u.a. in der Spionageabwehr und in der Terrorismusbekämpfung, sowie inzwischen über 15 Jahren als Unternehmensberater für nonverbale Kommunikation hat sich Navarro auf diesem Gebiert den uneingeschränkten Status als "Experte" verdient. Die spannende Frage bei seinem Buch war: Kann er diese Expertise auch verständlich vermitteln? Und nützt mir dieses Wissen im Unternehmensalltag?

Spoiler Alert: Ja, das kann er! Und: Ja, das tut sie!

 

"Ich sehe, was du denkst": Ein alles andere als tiefgestapeltes Versprechen, mit dem der Autor seinen praxisnahen Ratgeber einleitet. Doch der Titel enttäuscht nicht. Körperteil für Körperteil entschlüsselt Navarro, wie ein aufmerksamer Beobachter welches Verhalten seines Gegenübers zu deuten hat und reichert seine theoretischen Ausführungen immer wieder mit kurzweiligen Anekdoten seines FBI- oder Berater-Lebens an: Warum ein ausschlagendes Bein im Rahmen der Befragung einer Verdächtigten 25 Jahre Haft einbrachte? Wie die Drosselgrube einer besorgten Mutter den im Kleiderschrank versteckten Sohn verriet? Und warum Taschendiebe meist durch ihr Nichtstun auffallen?

 

Nach einer kurzweiligen, allgemeinen Einführung arbeitet sich Navarro vom limbischen System (das in Gefahrsituationen mit Flucht, Schockstarre oder Kampf reagiert) über Füße und Beine, Rumpf und Schultern, Arme, Hände und Finger bis hin zur Mimik. Das Thema "Täuschung und Lüge" hebt er sich bis zum Schluss auf. Navarro gibt auch hier hilfreiche Tipps und endet mit dem ehrlichen Geständnis, das auch der erfahrenste Körpersprache-Experte die Frage "Lüge oder Wahrheit?" nie mit vollkommener Sicherheit beantworten kann. Schließlich lässt er den Spannungsbogen in Form eines unanfechtbaren Appells auslaufen:

 

"Jeder von uns verlässt sich auf die Ehrlichkeit des anderen, denn wenn es keine Wahrheit gibt, dann leiden nicht nur wir, sondern die gesamte Gesellschaft." (221)

 

Auch (oder gerade) weil dieses Buch keine Pauschallösungen verspricht, sind die vielen kleinen, kurzweiligen Optimierungstipps für den Leser umso reizvoller. Navarros zehn Gebote, um nonverbale Signale erfolgreich zu entschlüsseln (22ff.), mögen ihm im FBI-Alltag genutzt haben, doch sie sind ebenso im normalsterblichen Familien- oder Unternehmensalltag hilfreich:

 

  1. Du sollst ein aufmerksamer Beobachter deiner Umgebung sein.
  2. Du sollst kontextbezogen beobachten.
  3. Du sollst lernen, universell gültige nonverbale Verhaltensweisen zu erkennen und zu deuten.
  4. Du sollst lernen, ideosynkratische nonverbale Verhaltensmuster erkennen und zu deuten.
  5. Du sollst im Umgang mit anderen versuchen, ihr Normalverhalten zu ermitteln.
  6. Du sollst versuchen, immer nach multiplen Tells Ausschau zu halten - Verhaltensweisen, die in Kombination oder in Folge auftreten.
  7. Du sollst nach Verhaltensänderungen Ausschau halten, die auf eine Veränderung der Gedanken, Gefühle, Interessen oder Absichten hinweisen. 
  8. Du sollst lernen, falsche oder irreführende nonverbale Signale zu erkennen.
  9. Du sollst den Unterschied zwischen Behagen und Unbehagen erkennen.
  10. Du sollst diskret sein, wenn du andere beobachtest. 

Fundiert, nützlich und kurzweilig: Drei Eigenschaften, die viel zu selten in einem einzigen Fachbuch zusammenfinden. "Menschen lesen" bekommt von mir drei Daumen und den #Lesenswert!

 

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